Innehalten und Unsicherheit akzeptieren

Heinz-Walter Große (ehem. CEO von Braun Melsungen) und Tomáš Sedláček (Ökonom), 2016

Heinz-Walter Große und Tomáš Sedláček haben ja auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeiten: hier der gereifte Vorstandsvorsitzende des 176 Jahre alten deutschen Pharmaunternehmens B. Braun Melsungen, dort der bilderstürmende 38-jährige tschechische Ökonom und Gegenwartsdiagnostiker. Aber, Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Kaum haben die Männer Platz genommen – übrigens vor Teilen der Originalapotheke, aus der B. Braun hervorging –, entspinnt sich ein lebhaftes Gespräch über Kontinuität und Diskontinuität, Wirtschaft und Unternehmen, Stillstand und Bewegung.

Heinz-Walter Große: Herr Sedlácček, der Begriff „Kontinuität“ ist für Unternehmer und Manager durchaus positiv besetzt. Gilt das für Ökonomen auch?

Tomáš Sedláček: Kontinuität ist ein extrem interessantes Wort. Das Gegenteil aber auch: In Tschechien feierten wir ja gerade erst 26 Jahre der Diskontinuität vom kommunistischen Regime. Diskontinuität war gewissermaßen das Mittel, um zur Demokratie und zur Marktwirtschaft zu gelangen. Sie können also etwas Neues erschaffen. So gesehen braucht man immer beide Seiten der Medaille: Kontinuität und Diskontinuität. Das ist eine dynamische Wechselbeziehung. Der große Psychoanalytiker Carl Gustav Jung war der Auffassung, dass sich außerhalb einer Krise nichts und niemand verändern kann, am allerwenigsten der Mensch.

Große: Menschen gehen gerne den einmal eingeschlagenen Weg weiter. Das gibt ihnen Stabilität und Sicherheit. Diskontinuität bedeutet, inne zu halten und Unsicherheit zu akzeptieren. Ich beobachte das auch in unserem Unternehmen: B. Braun ist sehr erfolgreich. Im Grunde dauert unser Wachstum seit 176 Jahren an. Viele sagen deshalb: Warum machen wir nicht weiter wie bisher? Warum müssen wir ständig etwas ändern? Ich sage: Weil eine Organisation nur dann erfolgreich ist, wenn sie in Bewegung bleibt. Wenn sie permanent daran arbeitet, besser, effizienter und innovativer zu werden. Auf der anderen Seite muss man die Ängste vor Diskontinuitäten natürlich ernst nehmen und versuchen, sie den Menschen zu nehmen.

„Ich liebe Regeln vor allem aus einem Grund: Wir können, ja müssen sie hin und wieder brechen.“
– Heinz-Walter Große

Sedláček: Das erinnert mich an einen Gedanken des Philosophen und Mathematikers Alfred North Whitehead. Er schrieb: In der griechischen Tradition sind Stabilität und Vollkommenheit Attribute der Götter. Und weil deren Ordnung perfekt ist, muss und darf man sie nicht ändern. Aber wir sind keine Götter, Unternehmen erst recht nicht. Wir brauchen deshalb beides: Ordnung und Unordnung. Das Leben ist einem konstanten Schütteln und Zittern unterworfen. Diese Dynamik ist wichtig, auch wenn sie manchmal unangenehm sein kann und viele Menschen Ruhe und Bequemlichkeit schätzen.

Große: Dazu kann ich ein Beispiel beisteuern: In unserem Verwaltungsgebäude am Stammsitz von B. Braun in Melsungen haben vor einigen Jahren damit begonnen, uns von der Idee des klassischen Büros zu verabschieden. Auch ich habe kein einzelnes Büro mit einer Tür, sondern eine Art Cockpit in einem großen, offen angelegten Raum. Ich persönlich halte das für die beste Umgebung. Man ist den Kollegen nah, kann leicht mit ihnen sprechen, sich austauschen und begegnen. Und wenn man in Ruhe arbeiten will, geht man in sein Cockpit. Wenn ich nicht in der Firma bin, kann ein anderer Mitarbeiter in diesem Cockpit arbeiten. Wir rotieren gewissermaßen, je nach Bedarf und Anwesenheit. Das schafft neue Freiräume, aber solche Veränderungen werden anfangs nicht von jedem begrüßt. Deshalb muss man für sie werben.

Sedláček: Das klingt fast nach einem kleinen Comeback der vorindustriellen Zeit, bevor es Fabriken gab. Man lebte und arbeitete in einer Familie und in einem Dorf. Wände waren rar. Das erzeugte eine starke Gemeinschaft. Kombiniert man diesen Gedanken nun im 21. Jahrhundert mit den neuen digitalen Technologien, entstehen ganz neue Arbeitsräume und –Möglichkeiten. Das kann durchaus inspirierend wirken …

Große: … aber nur dann, wenn im Unternehmen eine Kultur des Austauschs und des Dialogs herrscht. Das ist die Voraussetzung. Erst heute Morgen hatten wir ein Treffen mit Arbeitnehmervertretern. Wir sprachen auch über Vorschläge von Mitarbeitern, mit denen sich unsere internen Abläufe und Strukturen verbessern lassen. Dank dieser Ideen, die quasi aus dem Inneren von B. Braun kommen, realisierten wir im vergangenen Jahr Einsparungen in Höhe von 2,5 Millionen Euro. Wache Mitarbeiter, die sich einmischen, sind ein hohes Gut. Ich wünschen mir, dass Menschen mit ihren eigenen Initiativen Teil des Wandels werden. Und ich denke nicht, dass das immer mit einem lauten Knall erfolgen muss. Es sind oft die kleinen Dinge, die zählen.

„Wir brauchen beides: Ordnung und Unordnung.“
– Tomás Sedláček

Sedláček: Vielleicht kann man diesen Gedanken sogar noch zuspitzen: Ein Unternehmen braucht nicht nur wache Mitarbeiter, sondern sogar Störer und Unterbrecher. Sind sie es nicht letztlich, die ein Unternehmen weiterbringen? Eben nicht jene, die alles so wie immer machen wollen und versuchen, mit einer „Copy and Paste-Mentalität“ durchzukommen?

Große: Vielleicht würde ich diese Personen nicht Störer nennen, eher Menschen, die etwas in Frage stellen und sogar Freude daran haben: Warum tun wir dieses und jenes? Warum machen wir es nicht anders? Besser? Gewiss, dieses Fragen und Bohren kann manchmal nerven, aber letztlich ist es für ein Unternehmen hilfreich und notwendig.

Sedláček: Das heißt: damit ein Unternehmen stabil und gleichzeitig frisch bleibt, braucht man innerhalb dieser Struktur immer auch destabilisierende, erneuernde Elemente. Und sie brauchen eine entsprechende Kultur im Unternehmen, damit solch eine Vielfalt Wertschätzung erfährt. Dazu fällt mir gerade etwas ein: Ich habe einen 8-jährigen Sohn und wir schauten uns kürzlich gemeinsam den Film „Ice Age“ an. Darin gelingt es einer Gruppe von Tieren in der Eiszeit, gemeinsam Probleme zu lösen und zu überleben. Das Besondere ist die seltsame Zusammensetzung der Gruppe: ein Mammut, ein Tiger, ein Nagetier. Auf den ersten Blick passen die gar nicht zueinander, aber genau darin liegt ihr großer Vorteil: eine einzigartiartige Mischung an Talenten und Fähigkeiten. Man sieht: Vielfalt ist eine wunderbare Sache.

Große: Das Stichwort Vielfalt führt mich zu einem anderen Punkt. Wissen Sie, ich liebe Regeln. Denn wir können, ja müssen diese Regeln hin und wieder brechen. Wenn ich jemanden sagen höre, dieses und jenes können wir nicht tun, weil es nicht nach unseren Regeln ist – so etwas macht mich verrückt.

Sedláček: Warum?

Große: Weil man nicht immer einfach nur blind Regeln folgen darf. Man sollte immer den Umständen entsprechend handeln. Sehen Sie, wir produzieren ja nicht einfach Schreibstifte. Unsere Produkte sind für den Gesundheitsmarkt bestimmt und auf dem benötigen Sie 100 Prozent Qualität. Diese Top-Qualität steht fraglos immer an erster Stelle, aber manchmal lohnt es trotzdem, alte Regeln zu brechen. Ein gesundes Unternehmen benötigt erwachsene Menschen, die in der Lage sind, angesichts einer Herausforderung zu unterscheiden und zu urteilen, ob es richtig ist, nach den bekannten Regeln zu handeln oder ob etwas ganz anderes getan werden muss. Das ist es doch, was eine lebendige, innovative Organisation ausmacht. Dass dabei auch Diskussionen und Konflikte entstehen, gehört dazu. Wichtig ist nur, dass der Wille für eine gemeinsame Lösung obsiegt.