Indra K. Nooyi kam als junge Frau aus ihrem Heimatland Indien in die USA. Neben zahlreichen anderen Talenten brachte sie eine scharfe Beobachtungsgabe mit. Die half ihr, die Kultur ihres neuen Umfelds rasch zu verstehen und die Grundlagen für eine Karriere zu legen, die sie an die Spitze des Getränke- und Nahrungsmittelriesen PepsiCo führte. Und weil diese Topmanagerin immer noch sehr genau hinschaut, fiel ihr bei einem Konzert der von ihr bewunderten Jazzlegende Wynton Marsalis etwas ganz Besonderes auf: Marsalis, viele Jahre lang künstlerischer Leiter des Programms Jazz at Lincoln Center, benahm sich in seiner Band nicht wie ein Star, sondern achtete darauf, dass jeder Musiker zu seinem Recht kam und seine Zeit im Rampenlicht hatte. Beide trafen sich an einem schönen Frühlingstag auf der Upper West Side von New York zu einem Gespräch. Es war nicht ihr erstes Zusammentreffen, doch das erste Mal, dass sie über Leadership und deren kreative und inspirierende Elemente reflektierten. Obwohl sich Nooyi und Marsalis in unterschiedlichen beruflichen Welten bewegen und ihre Erfolge nach unterschiedlichen Maßstäben gemessen werden, entdeckten sie ein hohes Maß an Übereinstimmung. Wie ordnet man das eigene Ego den Teaminteressen unter? Was bedeutet es zuzuhören? Sie sprachen darüber, warum für Authentizität Herz, Seele und ein Verständnis der eigenen kulturellen Traditionen notwendig sind und dass „tough love“, also liebevolle Strenge, die Basis für großen beruflichen Erfolg sei … und warum Paranoia auch ihr Gutes hat.
Indra K. Nooyi: Organisationen werden häufig mit einem Sinfonieorchester verglichen. Aber ich glaube, die besten Unternehmen und Führungsteams ähneln eher einer Jazzcombo. Beim Jazz wird improvisiert. Die Musiker richten ihren Einsatz nach den Mitspielern aus. Es existiert eine Freiheit des Gebens und Nehmens, des Kreativen, der Spontaneität.
Wynton Marsalis: Die Schönheit der klassischen Musik des Abendlandes liegt darin, dass 65 oder 70 Menschen miteinander im selben Saal sitzen und ohne besonderen Aufwand diejenigen Vorstellungen umsetzen können, die Beethoven hatte. Wenn vorne der Dirigent steht, schaut jeder in dieselbe Partitur. Das Fagott versteht dasselbe wie die Pauke – „das ist in G und mezzoforte“. Jazz ist da weniger zwingend. Er beruht auf der Annahme, dass jeder mitswingen will. Wenn wir alle zusammenarbeiten, swingt die Musik, und wenn wir es nicht tun, dann eben nicht. Um also das gewünschte Ergebnis zu erzielen, muss sich jeder über das Ziel im Klaren sein und in dieselbe Richtung marschieren.
Nooyi: In Unternehmen kämpft jeder gegen jeden. Es gibt zu viele Solisten!
Marsalis: Mein Eindruck ist, dass die besten Jazzmusiker eine sehr klare Vorstellung von ihrer eigenen Rolle und davon haben, dass sie Teil eines Ganzen sind. Sie wissen: Wenn man dieses Selbstverständnis verliert, ist es unmöglich, als Gruppe zu funktionieren. So gesehen beruht unsere Musik auf dem Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen. Wenn man swingen will, muss man einander finden. Das bedeutet: Man kann nicht immer tun, was man will.
„Strategisches Denken heißt, Punkte zu Linien und Formen
zu verbinden, wo andere nur schwache Pünktchen sehen.“
– Indra K . Nooyi
Nooyi: Und wenn zu viele Leute für sich allein spielen, wenn sie solo spielen, gerät man irgendwann aneinander. Das ist keine Musik mehr, sondern Kakophonie. Es gibt eine Zeit fürs Solo – und dann wartet man auf das Zeichen der anderen und spielt zusammen.
Marsalis: Außenstehende glauben ja, Jazzmusiker kämen immer miteinander klar. In Wirklichkeit versuchen wir das nur. Denn keine zwei Leute empfinden die Zeit – das rhythmische Muster eines Musikstücks – auf dieselbe Weise. Wenn ich Sie zum Beispiel darum bitte, mir nach einer Minute Bescheid zu sagen, ohne auf die Uhr zu schauen, könnte es sein, dass Sie sich nach exakt einer Minute melden, während ich das schon nach 35 Sekunden tue. Wir empfinden die Zeit auf unterschiedliche Weise. Wir drücken und ziehen uns gegenseitig. Ich sage: „Hier sollte es sein.“ Und Sie sagen: „Nein, hier.“ Um miteinander zu swingen, müssen wir uns aber entgegenkommen. Geben Sie um meinetwillen Ihren Zeitbegriff auf, kommen wir ins Rasen, denn für mich fühlt es sich nach 35 Sekunden an. Wenn ich für Sie mein Zeitgefühl aufgebe, wird es zu schleppend.
Nooyi: Wir müssen uns ständig entgegenkommen.
„Die Geschichte lehrt, dass Monarchien untergehen, wenn Herrscherfamilien nur noch untereinander heiraten.“
– Wynton Marsalis
Marsalis: Stimmt, ein Geben und Nehmen. Wir müssen nach einem Weg suchen, wir selbst zu sein, und zugleich 1.000 kleine Korrekturen vornehmen. Als würden wir uns miteinander unterhalten. Ich kann improvisieren und mein eigenes Ding machen, oder ich kann einen Blues spielen und damit meine Stimmung ausdrücken. Aber das findet immer in schöpferischer Spannung zu der eigenen Erfahrung und zu dem Gefühl statt, das Sie vermitteln wollen.
Nooyi: Ich glaube, das ist in meiner Welt ähnlich. Oft nehmen die Menschen sich nicht die Zeit, einander wirklich zuzuhören oder darüber nachzudenken, welche Rolle sie im Gesamtbild einnehmen. Für mich kann sich darin ein Mangel an Authentizität zeigen.